Grußwort von Prof. Dr. Dieter Euler zum Studienstart an der BHH

Prof. Dr. Dieter Euler begrüßt den ersten Jahrgang der studienintegrierenden Ausbildung. (Foto: Roland Magunia)

Anlässlich der Erstsemesterbegrüßung am 27. August 2021 richtete sich der kommissarische Gründungspräsident mit folgenden Worten an die ersten Studierenden der BHH:

Liebe Studierende / Auszubildende,

Sie erleben die Hochschule momentan noch in einer für die Berufliche Hochschule Hamburg (BHH) untypischen Weise – vorne redet jemand, und Sie sind gehalten zuzuhören. Heißt es nicht, Studium und Wissenschaft lebten vom Dialog und Diskurs? Lassen Sie mich daher zwei Fragen aufnehmen, über deren Beantwortung Sie etwas genauer erfahren können, worauf Sie sich mit der studienintegrierenden Ausbildung an der BHH eingelassen haben:

  1. Ausbildung und Studium in Hochschule, Berufsschule und Betrieb – warum so viele Lernorte?
  2. Schule kennen Sie bestens – was ist aber das Besondere an Studium und Hochschule?

Zur ersten Frage – Warum so viele Lernorte?

Meine Antworten will ich mit einem kurzen Experiment einleiten: Strecken Sie eine Hand vor sich und spreizen den Zeigefinger nach oben. Fixieren Sie mit beiden Augen den Zeigefinger. Nun schließen Sie das linke Auge und schauen auf den Zeigefinger und seinen Hintergrund … Öffnen Sie das linke Auge wieder und schließen das rechte Auge, schauen erneut auf den Zeigefinger und seinen Hintergrund.

Wenn Sie genau geschaut haben, so haben Sie zweimal das Gleiche gesehen, aber doch nicht ganz das Gleiche. Die Perspektiven unterschieden sich und so sahen Sie den Gegenstand (hier den Zeigefinger) in unterschiedlichen Kontexten …

Die kleine Übung charakterisiert im Prinzip das Spezifische der studienintegrierenden Ausbildung: Sie schauen aus unterschiedlichen Perspektiven auf den gleichen Gegenstand. Für die Betriebswirte ist der Gegenstand der Betrieb mit seinen vielen Bereichen, Abläufen und Personen. Für die Informatiker sind es die Informationsprozesse und -geräte. Die drei Lernorte schauen jeweils auf die gleichen Gegenstände, aber aus unterschiedlichen Perspektiven. Und: Je mehr Perspektiven Sie erhalten, desto mehr erfahren Sie über den Gegenstand! Oder pointiert: Wenn man nur einen Hammer hat, dann ist jedes Problem ein Nagel … In der studienintegrierenden Ausbildung bekommen Sie einen ganzen Werkzeugkasten …

Zwischen den drei Lernorten gibt es kein Besser oder Schlechter, sondern nur ein Anders. Berufsschule, Hochschule und Betrieb sind für Ausbildung und Studium gleichwertig, aber nicht gleichartig.

Warum ist es heute so wichtig, aus verschiedenen Perspektiven auf die Wirklichkeit schauen zu können? – Hier gibt es viele Gründe, einen davon will ich hervorheben:

Heute ist es nicht nur im Berufsleben wichtiger denn je, sich mit Leuten verständigen zu können, die anders auf die Dinge schauen als Sie selbst. Techniker und Kaufleute, Produktentwickler und -verkäufer, Informatiker und die Anwender von Informationssystemen, Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven müssen kooperieren und dabei die Sichtweise des anderen verstehen und berücksichtigen. „Kognitive Flexibilität“ ist das Schlüsselwort – das Gegenteil von Fachidioten-, Schmalspur- oder Flachdenkertum … Damit verbunden ist die zunehmende Notwendigkeit, sich in unterschiedlichen Kulturen zurechtfinden zu müssen.

Drei Lernorte – drei Kulturen mit je eigenen Fachsprachen, Verhaltensregeln und Etiketten – die studienintegrierende Ausbildung bietet Ihnen die Chance, sie alle zugleich zu verstehen.

Zur zweiten Frage – Was ist nun das Besondere an Studium und Hochschule?

Pointiert formuliert: Im Betrieb werden Sie mit den Fragen und Problemen von heute konfrontiert, in der Hochschule werden Sie zudem auch darauf vorbereitet, mit den Problemen von morgen umzugehen. Eine Herausforderung in Ausbildung und Studium ist die Tatsache, dass sich Wissen immer schneller umschlägt.
Während es bei dem Auto 44 Jahre, beim Telefon 26 und beim PC 15 Jahre dauerte, bis 25% der (amerikanischen) Bevölkerung diese Techniken nutzten, betrug die Umsetzung beim Internet schon weniger als 7 Jahre. 80% der heute eingesetzten Technologien waren vor 10 Jahren noch nicht erfunden. Viele Technologieunternehmen erzielen mehr als 90% ihres Umsatzes mit Produkten, die vor 18 Monaten noch nicht existierten. Sie müssen immer schneller laufen, um auf dem Laufenden zu bleiben. Das hat gravierende Konsequen­zen für Ausbildung und Studium. Zugespitzt: vieles von dem, was Sie heute lernen, ist nach dem Bildungsabschluss bereits veraltet. Viele Inhalte haben ein kurzes Verfallsdatum und dienen nur exemplarisch dazu, dass sich die Lernenden neue Inhalte selbständig erschließen.

Aus dem Gesagten ergibt sich, dass Sie im Studium zwar viele aktuelle Inhalte und Theorien lernen, aber wichtiger noch ist die Kompetenz, sich diese eigenständig aneignen und sich mit anderen Menschen mit anderen Perspektiven verständigen zu können. Ein gutes Studium ist daher mehr als ein Trainingslager zur Vorbereitung auf eine berufliche Karriere. Ohne den Begriff „Wissenschaft“ überzustrapazieren, sind Dinge wie die folgenden wichtig:

  • Nachdenken ist wichtiger als Nachreden.
  • Sie lernen, wie es in der Praxis ist, aber auch, wie es zukünftig anders sein könnte …
  • Sie lernen sich dumm zu stellen, um klüger zu werden, d.h. die Fähigkeit, gute Fragen zu stellen …
  • Sie sollten erfahren, dass sich auch in der Wissenschaft die Antworten verändern können … Eine Anekdote mag dies illustrieren: Einstein hatte seine Sekretärin gebeten, den Studierenden zur Prüfung die Aufgaben des vergangenen Jahres zu geben. „Aber Herr Professor, das sind doch die gleichen Aufgaben wie im vergangenen Jahr!“, so die Sekretärin. Darauf Einstein: „Ja, das stimmt, aber die Antworten haben sich geändert!“
  • Sie entwickeln Wissen, d.h., Sie lernen auf oder in der Sache stehen, aber auch Gewissen, d.h., Sie lernen zu einer Sache zu stehen …

Einige unter Ihnen mögen sagen: Was hat das mit BWL oder Informatik zu tun? Macht ein Studium nicht primär das Fachliche aus? – Ich gebe Ihnen darauf keine Antwort – denn auch das ist ein Teil des Studiums. Die Hochschule sollte Sie mit guten und richtigen Fragen ausstatten, plus die Ressourcen, anhand derer Sie die Antworten selbst finden können.

Vielleicht kennen Sie den schönen Film „Yentl“ mit Barbara Streisand. Da wetteifern Schüler darüber, wer den besten Lehrer hat. „Mein Rabbi ist ein Genie – er weiß auf jede Frage zehn Antworten!“ – Worauf Yentl, die Tochter eines Rabbiners preisgibt: „Mein Vater weiß auf jede Antwort zehn Fragen!“

Ich wünsche Ihnen viele interessante Fragen in Berufsschule, Betrieb und Hochschule – und dass Sie nicht den Mut verlieren, sich mit ihnen zu beschäftigen. Sollten Sie mal kurz davor sein, ihn zu verlieren, dann stehen Dozierende und Coaches in Berufs- und Hochschule bereit. – In diesem Sinne: ein guter Studienstart an der BHH!

Prof. Dr. Dieter Euler am 27. August 2021